DIE MIT DEM BERG SPRICHT

Ein Einblick in die Berg- und Gedankenwelten von Gerlinde Kaltenbrunner
Bergsteigen bei Sonnenaufgang | © SPORT 2000

Übersicht

Veröffentlicht am 15.09.2022, Lesedauer: 8 Minuten

Gerlinde Kaltenbrunner braucht eigentlich keine Vorstellung. Sie ist eine der erfolgreichsten Höhenbergsteigerinnen der Welt, hat alle vierzehn Achttausender bestiegen und war die erste Frau, die das komplett ohne zusätzlich mitgeführten Sauerstoff geschafft hat. Trotzdem ist der Wettbewerb für sie nicht das primäre Ziel. In diesem Interview erzählt uns die österreichische Ausnahmebergsteigerin über Dinge, die sie bewegen – wie ihre Motivation, Emotionen, Fitness, Gesundheit oder Menschen und natürlich über das Bergsteigen in allen Facetten. Ein sehr interessantes Interview mit einer bemerkenswerten Frau.

Liebe Gerlinde, die Berge sind deine Heimat. Würdest du das auch so unterschreiben? Was bedeutet der Begriff Heimat für dich?

Heimat ist für mich überall dort, wo ich mich wirklich wohlfühle und mein Herz höher schlägt. Das ist neben verschiedenen Orten und bei Begegnungen mit Menschen auch definitiv in den Bergen der Fall. Da geht es mir gut, da geht mein Herz so richtig auf und da bin ich ganz ich.

Wie trittst du einem Berg emotional gegenüber, bevor du ihn besteigen willst?

Vor allem vor Expeditionen gehe ich in Verbindung mit dem Berg sowie der jeweiligen Route und bitte um Erlaubnis, aufsteigen zu dürfen. Und auch bitte ich darum, dass ich gut wieder nach unten komme. Im inneren Dialog kommuniziere ich letztendlich mit dem Berg. Ich spüre hin, wie er auf mich wirkt: Passt das Gefühl zum Aufstieg oder wirkt der Berg eher abweisend?

Was sind die größten Herausforderungen am Berg? Hast du auch mal Angst? Wenn ja, wie gehst du damit um?

Eine große Herausforderung ist immer den Fokus und die Aufmerksamkeit zu halten, auch bei einem steilen Aufstieg über viele Stunden wie z. B. am K2 oder auch bei der letztjährigen Expedition zum Gasherbrum IV. Es ist hier wichtig, immer vollkommen präsent zu sein und auf jeden Schritt zu achten. Es gilt schon im Vorfeld, die objektiven Gefahren einzuschätzen und auch hinzuspüren, ob gerade alles  für einen weiteren Aufstieg für mich passt. Wenn das der Fall ist, lasse ich mich voll auf den Moment ein und habe Vertrauen.

Würde das Gefühl der Angst sich immer wieder zeigen, dann wäre ich fehl am Platz und dies wäre das finale Signal, um umzudrehen. Aber natürlich hat es auch Situationen gegeben, in denen ich große Angst hatte – wie z. B. am Dhaulagiri, als ich im Zelt von einer Lawine verschüttet wurde.

„Vor allem vor Expeditionen gehe ich in Verbindung mit dem Berg sowie der jeweiligen Route und bitte um Erlaubnis, aufsteigen zu dürfen. Und auch bitte ich darum, dass ich gut wieder nach unten komme.“

Welche Voraussetzungen braucht es im Denken und Fühlen, um mit seinen Ängsten und Zweifeln in schwierigen Situationen am Berg zu bestehen?

Hier hilft mir die Meditation sehr, um zentriert und fokussiert zu bleiben. Diese hat mich immer wieder sehr unterstützt in Situationen, die schier aussichtslos erschienen. In eiskalten Nächten im Sturm auf 8.000 Metern Höhe ermöglichte mir diese Praxis, mentale Ruhe einkehren zu lassen und keine Energie unnötig zu verbrauchen. Insgesamt bin ich durch das tägliche Meditieren viel ruhiger und gelassener geworden und Intuition sowie Wahrnehmung haben sich intensiviert.

Mit über 50 Jahren machen sich andere vielleicht schon Gedanken über ihre Gelenke und die abnehmende Leistungsfähigkeit. Wie geht es dir damit? Wie hältst du dich fit? Gibt es einen Gesundheitstipp, den du unseren Lesern mitgeben kannst?

50+ ist in erster Linie eine Zahl und mit einem rundum gesunden Lebensstil lässt sich das biologische Alter stark beeinflussen und auch der Gesundheitszustand sowie die Leistungsfähigkeit verbessern. Natürlich merke auch ich, dass es hin und wieder irgendwo zwickt, aber auch das gilt es anzunehmen, nicht zu sehr damit zu hadern, sondern besser darauf zu schauen, was ich Gutes dafür tun kann. Durch Yoga bleibt der Körper beweglich und zusammen mit Atemübungen kommt die Energie ins Fließen.

Ich spüre gerade verstärkt in den letzten Jahren im Training oder unterwegs am Berg, dass ich durch die täglichen Übungen hier voll in meiner Kraft bin. Als Gesundheitstipp darf ich das Praktizieren der Nasenatmung mit auf den Weg geben. Diese hat sehr starke, positive gesundheitliche Auswirkungen.

Du ernährst dich seit vielen Jahren vegan. Was waren die Gründe dafür? Inwiefern hat das dein Bergsteigen verändert? Wie machst du den Eiweißmangel wett?

Zu Beginn war mein Antrieb dafür ein rein gesundheitlicher. Ich wollte auf natürliche Weise gesund bleiben und noch mehr in meine Kraft kommen. Erst als ich mich intensiver mit dem Thema beschäftigte, wurde mir bewusst, dass ich auch aus ethischen und ökologischen Gründen keine Tierprodukte mehr essen möchte. Mit einer biologisch hochwertigen, möglichst unverarbeiteten, rein pflanzlichen Ernährung hat sich z. B. meine Regeneration verbessert und ich konnte die Trainingsphasen erhöhen. Genauso verbesserten sich die geistige Konzentration und mein Hautbild.

Auch meine Schlafphasen verkürzten sich von neun  auf sechs  Stunden und insgesamt hat sich mein körperliches und geistiges Wohlbefinden stark gesteigert. Mit einer abwechslungsreichen Kombination von Hülsenfrüchten, Nüssen und Samen sowie vollwertigem Getreide bin ich bestens mit Eiweiß versorgt.

„Dann für etliche Wochen weit weg jeglicher Zivilisation zu sein, reduziert auf das Notwendigste, in einem Team ganz fokussiert auf ein großes Ziel, mich vollkommen auf den Berg – die Route – einzulassen, erfüllt mich sehr.“

Der Wettbewerbsgedanke ist in vielen Bereichen des Bergsteigens omnipräsent. Du hast da wohl einen anderen Ansatz. Was bedeuten dir deine Rekorde? Warum gehst du auf einen Berg?

Durch die Skisport-Erfahrungen in meiner Jugend  und später bei den Mountainbike-Rennen hat es mich gerade auch deshalb sehr zum Bergsteigen gezogen, weil ich mir dachte, hier gibt es keinen Wettbewerb, da taucht man einfach ein in die Natur und ist ganz im Moment. Dennoch habe ich hier die Möglichkeit, mich körperlich anzustrengen und im Rahmen, wie die Verhältnisse am Berg es mir vorgeben, auch Ziele zu erreichen. Jeglicher Wettbewerb beim Höhenbergsteigen ist aus meiner Sicht lebensgefährlich. Durch das Getriebensein mit dem Wunsch nach einem Rekord verengt sich vielleicht der Blickwinkel und es entsteht Unachtsamkeit – dies ist beim Höhenbergsteigen nicht förderlich. 

Meine Gipfelerfolge sehe ich nicht als Rekorde, sondern als Erfüllung eines ganz persönlichen Lebenstraums. Im Lauf der Jahre nach einigen erreichten Gipfeln kam irgendwann langsam der Wunsch auf, alle Gipfel der 14 Achttausender ohne zusätzlichen Sauerstoff und aus eigener Kraft ohne Unterstützung durch Hochträger erreichen zu wollen. Dass dies so hat sein dürfen, dafür bin ich sehr dankbar und darüber freue ich mich auch sehr.

Die höchsten Berge üben auf verschiedenen Ebenen eine große Faszination auf mich aus. Zum Beispiel die Mächtigkeit, Kraft und Energie, die von diesen Bergriesen ausgeht, der oftmals lange Anmarsch zum Basislager und die sich daraus ergebende absolute Abgeschiedenheit. Am Weg zum Berg ergeben sich auch immer wieder sehr schöne Begegnungen mit Einheimischen. Dann für etliche Wochen weit weg jeglicher Zivilisation zu sein, reduziert auf das Notwendigste, in einem Team ganz fokussiert auf ein großes Ziel, mich vollkommen auf den Berg – die Route – einzulassen, erfüllt mich sehr.

Du kennst nun schon so viele Berge auf der ganzen Welt. Wo bist du am liebsten unterwegs und warum?

Das ist gar nicht so leicht zu beantworten … Es gibt so viele schöne Plätze! Sehr gerne bin ich im Karakorum in Pakistan unterwegs. Die wilde und schroffe, durch Kargheit geprägte und dadurch auch reduzierte Landschaft spricht mich sehr an. Genauso gefällt mir, obwohl dort manchmal auch recht viel los sein kann, das Khumbu-Everest-Gebiet in Nepal. Von Namche Bazar aus zum Bergsteigen zu starten, ist immer wieder eine Freude.

„Es kam bei mir irgendwann die Frage auf, welchen Sinn oder Zweck mein Tun für andere hat. Die Unterstützung für die Menschen dort, welche nicht so privilegiert wie wir aufwachsen und leben dürfen, erfüllt mich genauso wie das Bergsteigen.“

Du engagierst dich auch aktiv im Verein Nepalhilfe Beilngries e. V. Magst du uns etwas darüber erzählen?

Das Engagement für die Nepalhilfe liegt mir sehr am Herzen. Im engagierten Team können wir den Menschen in Nepal, von denen wir so viel Gastfreundschaft und Unterstützung vor Ort erfahren haben, mit vielfältigen Projekten etwas zurückgeben. In Form von Bildungshilfe z. B. durch den Bau von Schulen auf dem Land, im Gesundheitsbereich oder auch durch das Betreiben eines Waisenhauses im Kathmandu-Tal. Hier habe ich auch mein höheres Anliegen hinter dem Bergsteigen an den 8.000ern entdeckt. Es kam bei mir irgendwann die Frage auf, welchen Sinn oder Zweck mein Tun für andere hat. Die Unterstützung für die Menschen dort, welche nicht so privilegiert wie wir aufwachsen und leben dürfen, erfüllt mich genauso wie das Bergsteigen.

Welche Berge möchtest du noch besteigen? Was ist dein nächstes Projekt?

Es gibt noch so viele schöne Berge, die mich anziehen. Genauso bin ich sehr gerne auch in Österreich oder den Alpen derzeit zum Felsklettern oder im Winter auf Skitouren unterwegs. Wenn es sich noch ergibt, dass ich die eine oder andere Expedition im Karakorum oder in Nepal machen darf, wäre dies eine wundervolle Draufgabe zu dem, was ich schon habe erfahren dürfen.

Wie bereitest du dich auf eine Expedition vor? Was ist dabei wichtig?

Für die körperliche Vorbereitung trainiere ich intensiv und sehr abwechslungsreich im Ausdauer- und Kraftausdauerbereich, jedoch ohne Trainingsplan. Wichtig war und ist mir immer ganz und gar auf meinen Körper zu hören, zu spüren, was er gerade braucht oder nicht. Es hat mir mental am Berg immer eine große Sicherheit gegeben, wenn ich körperlich bestmöglich vorbereitet war. Daneben spielen für mich gesunde Ernährung, Meditation und auch Entspannung/Regeneration eine genauso wichtige Rolle. Neben der individuellen Vorbereitung bereiten wir uns auch im Team akribisch vor. Wir versuchen die Risiken bestmöglich abzuwägen und die Aufgaben auch im Vorfeld bei der Logistik stärkenorientiert  zu verteilen.

„In erster Linie finde ich wichtig, egal was man tut, dies aus tiefstem Herzen zu leben und Freude dabei zu empfinden. Dann ist Authentizität da und es tut sich ein Weg auf. Ziele sollte man weiterverfolgen, auch wenn es vielleicht einmal länger dauert oder sich Umwege ergeben.“

Worauf sollte man bei der Ausrüstung achten? Welche Dinge hast du immer am Berg mit?

Gerade beim Höhenbergsteigen sind das Gewicht der Ausrüstung und die Wärmeisolation sehr wichtig. Hier hat sich im Laufe meiner Zeit an den 8.000ern und auch in den letzten Jahren viel weiterentwickelt. Vieles ist nochmals leichter geworden, was vor allem wenn man das Material selbst trägt, sehr entscheidend ist. Auch bei der Wärmeisolierung und beim Handling von Schuhen oder Bekleidung hat sich vieles weiter verbessert. Gerade in der Höhe, wo auch normale Tätigkeiten sehr mühsam ablaufen und man oft dicke Handschuhe trägt, ist einfaches An- und Ausziehen und Justieren von Schuhen und Bekleidung sehr vorteilhaft. Mir ist auch wichtig, dass die Passform von vornherein stimmt und man in der Bewegung nicht eingeschränkt ist.

Das SPORT 2000 Berg Profi Magazin ist auch gespickt mit Bergsportprodukten. Du bist gern mit LOWA-Equipment unterwegs. Warum bzw. was schätzt du an LOWA?

Seit meiner Jugend bin ich mit LOWA-Schuhen unterwegs und diese haben für mich die perfekte Passform, das hat sich auch bis heute nicht verändert. Als LOWA-Athleten dürfen wir uns jederzeit bei der Produktentwicklung und -optimierung mit einbringen, das schätze ich sehr. Genauso wie das in allen Bereichen supersympathische und engagierte LOWA-Team. 

Wie kommt man als angehender Bergsteigerprofi an Sponsoren? Hast du Tipps für junge Bergsteigerinnen und Bergsteiger, wie man das am besten angeht?

In erster Linie finde ich wichtig, egal was man tut, dies aus tiefstem Herzen zu leben und Freude dabei zu empfinden. Dann ist Authentizität da und es tut sich ein Weg auf. Ziele sollte man weiterverfolgen, auch wenn es vielleicht einmal länger dauert oder sich Umwege ergeben. Und wenn der Wunsch da ist, dies über Sponsoren zu finanzieren und diese nicht von selbst anklopfen, aktiv ansprechen und sich selbst sowie mögliche Projekte vorstellen

Vielen Dank für das Interview!

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